Handtücher und ein paar Basics legt er ordentlich zusammen in die unteren Fächer eines Regals. Sein ganzes Leben war in zwei Plastiktüten verpackt – der unsichtbare Rucksack hingegen, den Karim mit seinen Sorgen und Ängsten, mit vielen schlimmen Eindrücken und Erfahrungen mit sich herumträgt, ist riesengroß und schwer.
Karim ist gerade 16 Jahre alt geworden und kommt aus Benin. Im Januar floh er alleine nach Deutschland. Seine Reise war geprägt von Strapazen und Gefahren. Mit dem Bus kam er von Benin nach Libyen, setzte mit einem Boot nach Italien über und fuhr von dort mit dem Zug weiter. Am Leib trug er Schuhe, Hose, Pullover und eine Sommerjacke. Keine Winterklamotten, keine Habseligkeiten aus der Heimat – keine schönen Erinnerungen im Herzen: Er gibt an, keine Familie zu haben. An seiner Heimat vermisse er nichts!
Karim hält kurz inne und steht etwas verlegen im Zimmer, seinem neuen Zimmer. Seinem neuen Zuhause. Er guckt sich um, schaut unbestimmt aus dem Fenster. Der Raum ist freundlich und hell, die weißen Wände sind noch kahl. Dann bezieht er sein Bett, lässt jedoch die Bettdecke im Schrank. Für eine Decke sei es ihm viel zu heiß. „Wollen wir runtergehen?“, fragt er schüchtern.
Im Erdgeschoss des neuen Interkulturellen Jugendwohnhauses Ohana ist es noch still und leer. Karim ist der erste von zwölf jungen Geflüchteten, die hier ihr neues Zuhause finden. Aufrecht sitzt Karim neben einem Kickertisch auf dem Sofa. Angelika setzt sich neben ihn, ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Angelika ist professionell ausgebildete Sozialpädagogin und begleitet Karim bereits seit vier Monaten, zuvor war sie seine Bezugserzieherin in der Clearingeinrichtung Brode. Sie haben eine gute Beziehung, sie spricht fließend Französisch, Karims Muttersprache neben Dendi. Trotz ihrer zehnjährigen Berufserfahrung stößt sie oft an ihre Grenzen, wenn sie die Schwächen des Systems erlebt. Insbesondere das Thema der bevorstehenden Volljährigkeit ihrer Klient*innen belastet sie. Es erscheint ihr unmenschlich, einen gerade 18 Jahre alt gewordenen jungen Menschen aus der Hilfe entlassen zu müssen einzig wegen einer neuen Zahl auf dem Papier. Sie beobachtet auch, wie die Standards der Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Geflüchtete oft nicht ausreichen.
Auf die beiden warten nun viele Termine bei Behörden, bei denen sie an solche Grenzen stoßen werden; das Asylverfahren läuft noch. Aber im Ohana findet Karim eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, um diese und andere Hürden - kurzum seinen neuen Alltag meistern zu können.
Karim denkt viel nach, er überlegt genau und wählt seine Worte mit Bedacht. Träume hat er viele. Aber im Moment, sagt er, ist es erstmal wichtiger, die Schule und vielleicht ein Studium erfolgreich zu meistern, um überhaupt irgendeinen Traum verwirklichen zu können. Einen konkreten Berufswunsch hat er noch nicht - am liebsten möchte er alles ausprobieren und sich nicht festlegenUnd so findet er Motivation, Hoffnung und Kraft in der Schule und im Lernen. Er geht im Wedding zur Schule und hat kürzlich seinen A1-Sprachtest bestanden, erzählt er stolz. Er versteht und spricht bereits vieles auf Deutsch. Wenn er negative Gedanken hat, geht er raus, erkundet Berlin und lässt sich von der Stadt inspirieren, um den Kopf frei zu bekommen, wie er sagt.
Karim ist schwer traumatisiert und befindet sich in psychologischer Behandlung, um seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Über seine Erlebnisse spricht er nicht gerne. Auf einmal wirkt er wieder ganz unsicher, schüchtern und möchte sich am liebsten unsichtbar machen. Nervös spielt er mit seinen Fingern und zeichnet verlegen Muster in den Sofabezug oder trommelt einen Rhythmus auf seinen Handrücken.
Er hat Angst vor Flashbacks. Ein falsches Wort könnte seine Wunden aufreißen und ihn in ein dunkles Loch ziehen. Er senkt den Kopf, hält sich den Bauch.
Sobald er über Fußball spricht, strahlen seine Augen wieder. Er ist großer Fußballfan und sein Lieblingsverein ist Barcelona, aber auch Hertha, Union, Dortmund und Bayern gefallen ihm. Mit großer Freude aber bescheiden erzählt er von seinem eigenen Fußball, den ihm das Team in der Brode geschenkt hat. In Benin, erzählt er, sei es nicht üblich, Geburtstage zu feiern, und er habe noch nie ein Geschenk erhalten.
Karim fühlt sich in Deutschland wohl und ist dankbar für die Hilfe, die er erhält. Auf Nachfragen berichtet er zögerlich von Rassismus, den er erlebt. Erst kürzlich wurde er in der Bahn angegangen. Nach dem Fußballtraining setzte er sich mit einem verletzten Knöchel in die Tram neben ein Mädchen. Die Eltern des Kindes sprangen auf, verließen erbost den Platz und beschimpften ihn aus "Angst, ihre Tochter würde bedrängt werden". Karim winkt ab, als wolle er das Erlebte herunterspielen. Die negativen Erfahrungen in Deutschland scheinen für ihn nur irrelevante Kleinigkeiten zu sein, verglichen mit dem, was er durchgemacht hat.
Der Einzug von Karim ins Interkulturelle Jugendwohnhaus Ohana markiert einen neuen Abschnitt in seinem Leben. Er hat Hoffnung auf eine bessere Zukunft und die Unterstützung von Menschen wie Angelika gibt ihm Sicherheit. Und Zuversicht. Das Ohana bietet ihm ein neues Zuhause, in dem er lernen und sich entfalten kann. Trotz der Herausforderungen, die er bereits gemeistert hat und denen er sich noch stellen muss, ist Karim entschlossen, seine Träume zu verfolgen und ein erfülltes Leben aufzubauen.